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Hör mal, wer da spricht

Im Gespräch mit der inneren Familie

Neulich beim Familientreffen

„Mit Onkel Olaf sitze ich ungern am Tisch. Er ist so in sich gekehrt und bringt den Mund nicht auf!“

„Und weil Du das nicht aushältst, trinkst Du ein Bier nach dem anderen?“

„Ach, und Du meinst, Du bist was Besseres und rettest mit Deinem permanenten Small Talk die Stimmung?“

Unsere schrecklich nette Familie! Wer kennt nicht einen verstockten Onkel, den polternden Bruder oder hat eine harmoniebedürftige Mutter? Ein schwarzes Schaf? Überall! Mit ihren Eigenheiten, Unarten, aber auch Liebenswürdigkeiten und einzigartigen Geschichten sorgen unsere Familienmitglieder für (Zünd-)Stoff bei jedem Aufeinandertreffen.

Stellen Sie sich für einen Moment vor, diese Familie wohnt in Ihnen!

Was, wenn wir auch in uns eine solche Familie beherbergen? Wenn wir uns auf den Gedanken einlassen, unsere Innenwelt sei bevölkert von äußerst unterschiedlichen Teilpersönlichkeiten, die ihre jeweils ganz eigenen Gedanken, Gefühle, Geschichten und Perspektiven einbringen? Diese Vorstellung einer Multiplizität der Psyche gibt es in der Psychologie schon relativ lange. Zum Beispiel haben sich Freud, Klein, Jung, Assagioli und Ferrucci damit beschäftigt.

Der US-Familientherapeut Richard C. Schwartz hat die Idee zum systemischen Konzept des Internal Family Systems (IFS) weiterentwickelt. Er geht übrigens bewusst von einer inneren Familie aus, nicht von einem inneren Team. Aus einem Team kann man jemanden entlassen, aus einer Familie nicht. Man ist gezwungen, miteinander auszukommen…

Wenn es wie in echten Familien auch in unserer Innenwelt bestimmte Rollenverteilungen, eingeschliffene Verhaltensweisen und Reaktionsmuster von Persönlichkeitsteilen gibt, kann man sich leicht vorstellen, dass sie bei wichtigen Themen und in anspruchsvollen Lebensphasen zu gehörigen inneren Spannungen führen können.

Im Coaching begegnet mir eine unendliche Vielfalt von Anliegen, die die innere Familie vor echte Zerreißproben stellen: Soll ich den Job wechseln, mich vom Partner trennen, der Kollegin endlich die Meinung sagen? Warum reagiere ich auf Kritik so wahnsinnig empfindlich? Und warum finde ich zu keinen neuen Impulsen im Leben, obwohl ich sie mir so sehr wünsche?

Wenn wir einmal genauer hinhören, merken wir, dass ein ständiger innerer Dialog in uns abläuft, ja geradezu unser Denken ausmacht. Verschiedene Teile in uns konkurrieren, koalieren, versuchen sich Gehör zu verschaffen, sich durchzusetzen und andere in den Hintergrund zu drängen.

Der Grundgedanke des IFS, der mich für dieses Konzept so begeistert, ist zutiefst positiv und versöhnlich: Im IFS geht man davon aus, dass alle diese inneren Anteile gute Absichten haben – auch wenn sie uns manchmal das Leben schwer machen. Jeder Anteil versucht auf seine Weise, uns zu schützen oder ein Bedürfnis zu erfüllen. Die Kunst liegt darin, die unterschiedlichen Seiten kennenzulernen, zu verstehen – und sie an einen Tisch zu holen, anstatt sie zu bekämpfen. Es geht also nicht darum, etwas Störendes „wegzumachen“, sondern um wertschätzenden, achtsamen Kontakt.

Eine Sippe aus Managern, Feuerwehrleuten und Verletzten

Wie in jeder Familie gibt es auch in unserer Innenwelt ein mannigfaltiges Beziehungsgeflecht. Die inneren Anteile bilden eine Art soziales System, das sich selbst erhält, und das einen guten Grund hat, dass es so ist, wie es ist. Wenn man etwas ändern möchte, ist es deshalb zunächst so wichtig, zu verstehen, weshalb etwas so ist, wie es ist.

In der Arbeit mit dem IFS geht man von drei ganz eigenen Gruppen innerer Anteile aus.

Da sind zunächst die sogenannten Manager. Diese Persönlichkeitsteile halten den Laden zusammen, sorgen für Erfolg und Sicherheit im Leben. Das erreichen sie, indem sie vorausschauen, strategisch und langfristig planen, steuern, kontrollieren, uns antreiben oder streng kritisieren. Ihr Ziel? Sie wollen uns vor Verletzungen schützen.

Wenn Gefühle sehr heftig werden, alte Wunden aufbrechen oder die Kontrolle durch die Manager überhand nimmt, springen Feuerbekämpfer ein. Sie wollen uns schnell von unangenehmen Gefühlen ablenken, indem sie sie unterdrücken und betäuben. Das kann durch Alkohol, Essen, stundenlanges Serien-Schauen oder auch einen plötzlichen Wutausbruch passieren – Hauptsache, der Schmerz überwältigt uns nicht. Die Feuerwehrleute wollen emotionales Feuer möglichst schnell löschen. Um die Konsequenzen scheren sie sich wenig. Sie sind spontan, impulsiv und unkontrolliert. Dass nach der Aktion das ganze Haus mit Löschschaum voll ist – sprich zu viel getrunken, gegessen oder geschrien wurde – stört sie während ihrer Aktion wenig. Doch eines eint sie mit den so ganz anders anmutenden Managern: Auch sie wollen uns vor Verletzungen schützen.

Hinter all dem stecken meist verletzliche Anteile. Manchmal werden sie auch „Verbannte“ genannt. Das sind jüngere, verletzliche Seiten in uns, die alte Ängste, Scham oder Trauer in sich tragen. Manager und Feuerwehrleute tun alles, um sie vor unserem Bewusstsein zu verstecken und zu verbannen. Sie haben Angst, dass wir von deren intensiven Gefühlen und Erinnerungen überwältigt werden.

Eigentlich ganz ähnlich wie in der Eingangsszene oben: Da versucht einer mit Small Talk die Situation zu kontrollieren, der andere hält die Stille nicht aus und „betäubt“ sie, indem er sich mit Trinken davon ablenkt. Beide können und wollen Olafs Stille nicht aushalten. Zu unangenehm, zu bedrohlich fühlt sich das an. Und anstatt sich Olaf zuzuwenden, konkurrieren sie um den besten Weg, die Stille zu überdecken und geraten in Streit.

Mit einem liebevollen Gastgeber am runden Tisch

Nun könnte man sich fragen, wer eigentlich der Gastgeber dieses Familientreffens ist. Was würde passieren, wenn er sich zu den Streithähnen und dem stillen Olaf dazusetzt?

Nun, es käme darauf an, aus welchem Holz er geschnitzt ist. Was würden wir uns von einem idealen Gastgeber wünschen? Er wäre sicherlich unerschütterlich gegenüber seiner heterogenen Gästeschar. Und er wäre er in der Lage, seinen Gästen offen, zugewandt, neugierig, mitfühlend und ausgleichend zu begegnen.

Im IFS wird die innere Instanz, die diese Führungsrolle übernehmen kann, das „Selbst“ genannt. Es behält den Überblick, geht respektvoll und fair mit allen Teilen um, ist achtsam, weise und wohlwollend.

Dieses „Selbst“ gibt es in jedem von uns. Im Alltag ist es nur allzu häufig überdeckt von beschützenden Teilen, die in Führung sind, wenn wir etwa Angst haben oder uns schämen. Wir sind dann vollständig identifiziert mit den Überzeugungen dieser Beschützer und nehmen die Welt durch ihre verengte Perspektive wahr. Es wäre geradezu so, als säße in unserer kleinen Familienszene der Small Talker oder der Biertrinker auf dem Schoß des Gastgebers, oder Olaf hinge ihm um den Hals. Der erste Schritt zu größerer innerer Freiheit ist deshalb, sich mit einzelnen Teilen etwas weniger zu identifizieren, sie vom eigenen Schoß runter und auf einen Stuhl zu setzen. Wenn es gelingt, das Selbst mehr und öfter in Führung zu bringen, können die Anteile schließlich aufhören, gegeneinander zu kämpfen.

Ein liebevoller Gastgeber bittet also alle Gäste an einen großen, runden Tisch, weist ihnen einen guten Platz zu und übernimmt Verantwortung für einen konstruktiven Austausch: der verschlossene Onkel Olaf, der polternde Bruder, die harmoniebedürftige Mutter – jeder darf da sein, jeder wird gehört. Es kehren Gelassenheit, Ruhe und Zuversicht ein.

 

Hör mal, wer da spricht!

Im Coaching darf ich immer wieder aufs Neue erleben, wie einfach, direkt und schnell der Zugang zur Innenwelt auf diese Weise funktioniert und welche Einsichten sich ergeben, wenn wir den Erfahrungen, Rollen und Interessen von Persönlichkeitsteilen folgen, anstatt das Anliegen ausschließlich kognitiv zu analysieren.

Alleine durch das tiefere Verständnis der eigenen Innenwelt entsteht oft schon verblüffende Klarheit hinsichtlich der mit dem Anliegen verbundenen Fragezeichen, Spannungen und Widersprüche - einhergehend mit einem spürbar wachsenden Wohlwollen sich selbst gegenüber.

Worin also besteht die Schlagkraft dieses Konzepts gegenüber ausschließlich kognitiv orientierten Verfahren? Die Herangehensweise ist achtsam, erfahrungs- und erlebnisorientiert. Der Fokus liegt auf dem körperlichen und emotionalen Erleben meiner Klientinnen. Die Neurowissenschaft bestätigt diesen Zugang als Königsweg zur Veränderung von tief verankerten Erlebens- und Verhaltensmustern. In den USA ist IFS übrigens ein anerkanntes Therapieverfahren und wird auch bei schwerwiegenden Problemstellungen wie Essstörungen und posttraumatischen Belastungsstörungen mit Erfolg angewandt.

Vielleicht hören Sie demnächst also einmal genauer hin, wer da in Ihnen spricht, wenn Sie sich in der ein oder anderen unangenehmen Situation wiederfinden. Nehmen Sie sich einen Moment Zeit und halten Sie inne. Lauschen Sie, wer in Ihrer inneren Familie gerade das Wort ergreift – und wenden Sie sich diesem Mitglied offen und neugierig zu. Was möchten Sie von ihm wissen? Vielleicht wie es ihm geht, was er hofft oder befürchtet? Wofür er sich einsetzt und was seine Überzeugungen sind?

Oder lassen Sie uns am besten gemeinsam ins Gespräch mit Ihrer inneren Familie kommen. Ich begleite die Erkundung Ihrer Innenwelt achtsam, mitfühlend und respektvoll, so dass Sie sich zu jedem Zeitpunkt sicher, akzeptiert und wertgeschätzt fühlen und Tiefe und Tempo des Prozesses selbst in der Hand haben. Immer wieder bin ich sehr berührt davon, wie sich Ablehnung und Unverständnis in Akzeptanz und innere Freiheit wandeln können. Sicher, dafür braucht es auch jede Menge Geduld. Doch genau dann, wenn die als problematisch empfundenen Persönlichkeitsteile nicht länger unterdrückt oder weiter bekämpft werden, sondern ihre eigentlichen Motive und positiven Absichten angehört und verstanden werden, wird Veränderung möglich.

Zum Einstieg in IFS:
Richard C. Schwartz: Das System der Inneren Familie: Einführung in die IFS-Therapie – Ein Weg zu mehr Selbstführung. München 2024.

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