Wenn plötzlich das Licht ausgeht
Das Gehirn in den Wechseljahren
Voller Tank – leerer Kopf
Ich fahre an die Tankstelle, öffne den Tankdeckel meines Wagens und fülle Benzin ein. Mit wenigen Schritten laufe ich von der Zapfsäule hinein in den Laden, vorbei an Zeitschriften und Süßigkeiten. Ich stehe vor dem Mann hinter der Kasse, der auf das Übliche wartet: Ich nenne die Nummer der Zapfsäule, er den Rechnungsbetrag, ich bezahle und verabschiede mich.
Doch nach meinem „Hallo“ bleibe ich stumm. Er schaut mich fragend an. Anstelle ihm unaufgeregt „die Drei“ oder „die Fünf“ zuzurufen, spuckt mein Mund keine Zahl aus. Es bleibt still. Ich bin irritiert. Vor weniger als einer halben Minute stand ich an der Zapfsäule. Und jetzt kann ich mich nicht an die Nummer erinnern, auf die ich während des gesamten Tankvorgangs gestarrt habe? Ich gehe gedanklich den Weg zurück, aus dem Laden hinaus an die Zapfsäule. Welche Zahl? Ich suche in meinem Kopf, sehe dort aber nur eine schwarze Wolke.
Das hier an der Tankstelle ist mir noch nie passiert. Die schwarze Wolke fühlt sich irgendwie bedrohlich an, so wie aus dem Nichts aufgezogen. Was ist mit mir los? Ich bin in den Wechseljahren, und diese Wolke taucht in letzter Zeit immer öfter auf.
Immer öfter schwarze Wolken
Mal vergesse ich, nach dem Einkauf im Supermarkt noch Brot an der Bäckertheke mitzunehmen. Das andere Mal passiert es beim Brillenkauf: Ich diktiere dem Verkäufer meine Kontaktdaten: Name, Adresse, Telefonnummer, E-Mail. Er sagt freundlich: „Wir rufen Sie an, wenn die Brille da ist.“ Ich daraufhin ganz erstaunt: „Sie brauchen ja noch meine Telefonnummer!“
Die Menge derartiger Vorkommnisse in der jüngeren Vergangenheit macht mich unruhig, ängstlich, unsicher.
Jedes Mal, wenn mich so ein kleines, bisher unbekanntes Vergessen ereilt, zucke ich innerlich zusammen: Sitze ich im Schnellzug zur Endstation Demenz? Nach dem Schrecken schäme ich mich. Ich fühle mich hilflos. Weil ich weiß, dass die schwarze Wolke, die ich in diesen Momenten im Kopf sehe, gänzlich anders aussieht als die seltenen Schönwetterwolken zuvor.
Ich frage mich: Was ist da genau los in meinem Hirn? Ich beginne zu recherchieren und finde Verblüffendes.
Wissenschaftlich nachgewiesene Dunkelheit
Im Gehirn wird es während der Wechseljahre tatsächlich dunkler. Die Neuro–wissenschaftlerin und Nuklearmedizinerin Lisa Mosconi hat als eine der ersten Wissenschaftlerinnen überhaupt untersucht, wie sich die Menopause auf das Gehirn auswirkt. Für die bisher unterbelichtete Forschung hat die Pionierin eigens Technologien entwickelt, um zeigen zu können, was im Kopf passiert, wenn die Östrogenspiegel rückläufig sind.
Kann sie mir also erklären, warum ich regelmäßig befürchte, die Demenz klopft an? Fakt ist, mir schwirrt ganz oft der Kopf, ich kann nicht mehr so viele Informationen verarbeiten wie früher, bin oft langsam oder unfassbar müde im Kopf. An schlechten Tagen fürchte ich gar, den Verstand zu verlieren.
Umso erleichterter bin ich, dass Mosconi mit meinen Symptomen anscheinend gut vertraut ist. Ausnahmslos aufgelistet finde ich sie in ihrem Buch „The Menopause Brain“. Und wenn sie als Wissenschaftlerin diese Phänomene kennt - so logisch kann ich noch denken - bedeutet das, tausende andere Frauen kennen sie auch.
Mosconi fasst alles, was in meinem Kopf passiert (oder ausbleibt) unter dem Begriff „Gehirnnebel“ zusammen: die Vergesslichkeit, Probleme mit dem Kurzzeitgedächtnis, mit der Konzentration, langsames Denken und schnelle Ermüdung oder auch Wortfindungsstörungen.
Drastische Umbauprozesse
Mit sogenannten PET-Scans misst Mosconi die Energie in Gehirnen von Frauen vor, während und nach den Wechseljahren und stellt fest: Das Klimakterium ist ein neurologisch äußerst aktiver Prozess.
Bevor die großen hormonellen Veränderungen beginnen, dominieren helle Areale auf den Scans, das bedeutet, das Gehirn in der Prämenopause verfügt über sehr viel Energie. Schaut man sich dann Gehirne in der Postmenopause an, fragt man sich, wer das Licht ausgemacht hat. Durchschnittlich 30 Prozent weniger helle Flächen auf den Bildern sind da zu sehen, und das heißt: 30 Prozent weniger Energie.
Kein Wunder, dass ich oft da sitze und warte, dass mir ein Licht aufgeht. Mosconi konnte außerdem zeigen, dass nicht nur die Energie im Gehirn signifikant sinkt, sondern sich auch dessen Strukturen, Vernetzung und Chemie drastisch verändern. Ein Prozess, der während der Perimenopause beginnt und eine vollkommene Umgestaltung des Gehirns zur Folge hat. Die Unterschiede zwischen den Gehirnen sind so deutlich, dass man treffsicher sagen kann, ob der Scan zu einer Frau vor oder nach den Wechseljahren gehört.
Das Gehirn kompensiert Östrogenmangel
Was ruft die Dunkelheit im klimakterischen Frauenkopf hervor?
Mosconis spezielles Bildgebungsverfahren bringt eine besondere Auffälligkeit ans Licht: Die Anzahl bzw. Dichte der Östrogenrezeptoren im Gehirn nimmt im Verlauf der Wechseljahre deutlich zu und bleibt auch danach hoch, vermutlich um den Östrogenmangel bestmöglich auszugleichen.
Gut vorstellbar also, dass Telefon- und Zapfsäulennummern, Brote, Schlüssel und Geburtstage irgendwo zwischen diesen Rezeptoren versinken. Denn genau diesen Mechanismus, der helfen soll, das Östrogendefizit auszugleichen, hat Mosconi im Verdacht für die kognitiven Beschwerden, Gedächtnisstörungen und Konzentrationsschwierigkeiten während der Wechseljahre.
Belegen kann sie das aktuell noch nicht, aber sie hat neben die Scans Ergebnisse von kognitiven Tests und selbstberichteten Beschwerden der untersuchten Frauen gelegt und gesehen: Je höher die Dichte der Östrogenrezeptoren in bestimmten Bereichen des Gehirns, desto mehr Probleme hatten die Probandinnen mit ihrer Gedächtnisleistung und desto häufiger berichteten sie von kognitiven Beeinträchtigungen.
Spot an für eine frauenspezifische Neurowissenschaft
Mosconi will die neurophysiologischen Prozesse weiter erforschen. Sie erhofft sich dadurch nicht nur ein besseres Verständnis der Wirkungsweise von Hormonersatztherapien.
Sie will auch Antworten auf eine Frage, zu der es bislang wenig Erhellendes zu berichten gibt: Wie genau unterscheiden sich Gehirne von Frauen und Männern? Die Statistiken halten unverhohlen vor Augen, dass Frauen ein doppelt so hohes Risiko für Angststörungen, Depressionen und Alzheimer wie Männer haben; dreifach erhöht ist die Wahrscheinlichkeit für Autoimmunerkrankungen des Gehirns wie etwa Multiple Sklerose, und sogar vier Mal häufiger als Männer leiden Frauen an Kopfschmerzen und Migräne.
Höchste Zeit also, die Forschung zu Menopause-Gehirnen direkt mit einer frauenspezifischen Neurowissenschaft zu verdrahten. Zumal es nach wie vor üblich ist, dass Gesundheitssorgen von Frauen weniger Ernst genommen werden und sie sehr viel öfter als Männer hören, dass ihre mentalen Beschwerden psychosomatischer, hypochondrischer oder stressbezogener Natur sind. Mit Folgen: Frauen schämen sich dafür, Symptome anzusprechen oder spielen sie herunter. Lieber suchen sie Fehler, Schwächen und Unzulänglichkeiten in ihrer Persönlichkeit.
Die mentale Gesundheit von Frauen ist ein untererforschtes und unterfinanziertes Feld der Medizin. Bislang gibt es zum Beispiel noch keine systematischen Untersuchungen zur Auswirkung der mentalen Beeinträchtigungen der Wechseljahre im Alltag.
Nach der menopausalen Gehirnwäsche: wieder Licht im Oberstübchen
Ich verstehe so langsam: Ich bilde mir das nicht ein. Es kein Hirngespinst, es ist gerade einfach ein bisschen dunkel in meinem Gehirn.
Und dann die erste gute Nachricht bei dieser menopausalen Gehirnwäsche: Ich habe kein Ticket für die Endstation Demenz gelöst. In der Medizin betrachtet man die Vernebelung des Gehirns während der Wechseljahre als subjektiv wahrgenommenen kognitiven Abbau. Das bedeutet, man ist sich selbst darüber im Klaren, gerade nicht so pfeilschlau zu sein wie in den Jahren zuvor. Man fühlt die Beeinträchtigung im Vergleich zum eigenen vorherigen Level, aber die kognitive Leistung bewegt sich in der Regel nach wie vor im angemessenen Referenzbereich. So dramatisch die Verdunkelung auf den Bildern von Mosconi aussieht, sie ist kein Indiz für eine spätere neurologische Krankheit. Sie zeigt lediglich die Veränderung im Energiehaushalt des Gehirns.
Noch ist der Gehirnnebel nicht besonders ausführlich erforscht, aber es gibt stichhaltige Hinweise, dass mein Gehirn nach dem menopausalen Umbau zu alter Schärfe zurückfindet und sich Zapfsäulennummern und Komplexeres in meinem Kopf schneller wieder heimisch fühlen. Der Energieverlust stabilisiert sich, das Gehirn passt sich an. „Der Nebel lichtet sich und die Wolken klären auf“, verspricht Mosconi.
Trost an der Tankstelle
Es stimmt also: Mein Gehirn ist gerade wirklich etwas unterbelichtet, und das spüre ich deutlich. Aber ich darf Hoffnung haben, dass es sich einpendelt. Natürlich sind das alles nur Durchschnittswerte; und es gibt tatsächlich Hinweise, dass ein ausgeprägterer Schweregrad der kognitiven Symptome während der Wechseljahre ein höheres Risiko für Demenz bedeuten könnte. Aber für den Moment gilt: Ich bin nicht dement, weil ich die Nummer der Zapfsäule nicht mehr weiß. Wäre ich dement, wüsste ich nicht mehr, wofür eine Zapfsäule da ist.
Und Mosconi hat noch ein letztes Goodie für mich: Vor und nach der Menopause übertreffen Frauen Männer in ihren Leistungen bei kognitiven Tests; während der Wechseljahre sind sie einfach „nur“ genauso gut wie Männer. Vielleicht stelle ich mich einfach mal einen Tag an die Tankstelle und schaue, wie viele Männer von der Kasse verstohlen zurück zur Zapfsäule laufen, weil sie die Nummer vergessen haben…:-)
Weiterführend:
Lisa Mosconi: The Menopause Brain. London 2024.
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