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Wenn die Sirenen singen

Über Ziele im Coaching

Der Lockruf falscher Ziele

Odysseus, Held der griechischen Mythologie, lässt sich an den Mast seines Schiffes binden, um dem Gesang der Sirenen zu widerstehen. Deren Stimmen sind betörend – sie versprechen Wissen, Glück, Erfüllung. Doch wer ihnen folgt, zerschellt an den Klippen.

Auch im Coaching singen nicht selten die Sirenen. Da finden verlockende Ziele wie „schneller werden“, „selbstbewusster auftreten“, „erfolgreicher sein“, „endlich unabhängig werden“ Echo in einem Meer von Coachinganbietern, die genau das versprechen: In fünf Schritten zur perfekten Karriere oder gleich zum großen Lebensglück. Sie wirken verheißungsvoll, klar, machbar – in Windeseile zum gewünschten Selbst.

Keine Ängste mehr, keine Selbstzweifel, keine Scham. Schnell ein paar Interventionen aus Erfolgs- und Kurzzeitcoaching und schon sind positive Gefühlslagen und Hochstimmung erzeugt. Das fühlt sich kurzfristig grandios an - für die Klientin und den vermeintlich so wirksamen Coach.

Die Auseinandersetzung mit unangenehmen emotionalen Zuständen, in die Klienten und Klientinnen regelmäßig geraten, wird mit tausend Tricks aus der Toolkiste umschifft und als überflüssig deklariert. Bloß kein Kurs auf unbehagliche Gefilde. Doch genau dieses Ausweichmanöver führt an der eigentlichen inneren Wahrheit von Menschen vorbei, lässt wirklich nachhaltiges Veränderungspotenzial liegen und fördert am Ende sogar noch das seelische Leid von Coachees. Warum das so ist, schauen wir uns hier genauer an.

Was liegt hinter dem vordergründigen Veränderungsziel?

Menschen kommen mit dem Wunsch ins Coaching, sich zu verbessern, etwas zu optimieren oder leidvolle Zustände zu überwinden. Und das ist verständlich! Das Glücksdiktat der Gesellschaft ist ubiquitär. Es gilt, jederzeit zufrieden, erfolgreich und leistungsfähig zu sein. Und die schnellen Glücksversprechen von vielen Coachinganbietern sind da nur ein Baustein in der Marketingwelt unserer Machbarkeitsindustrie. Doch wissen wir eigentlich, was uns glücklich macht? Was wirklich gut für uns ist?

Oder anders gefragt: Mit welcher Stimme sprechen wir eigentlich, wenn wir im Coaching ein Ziel formulieren und sagen, was wir uns wünschen, wohin wir wollen? An welche Vorstellung vom Guten, vom Glück ist das formulierte Ziel geknüpft?

Schauen wir mal genauer hin: Wir sind keine einheitlichen, in sich widerspruchsfreien Persönlichkeiten. In jedem von uns wirken verschiedene Persönlichkeitsteile, die unterschiedliche Absichten, Interessen und Wünsche mitbringen. Wenn jemand sagt: „Ich möchte mich verändern“, ist zunächst oft gar nicht klar, welche Seite der Persönlichkeit sich hier äußert – und wer sich da verändern soll.

Möglicherweise drängt ein Persönlichkeitsaspekt auf Veränderung, der übernommene Erwartungen, frühe Anpassungsstrategien und gesellschaftliche Ideale verinnerlicht hat? Der ein Bild davon hat, wie man sein sollte? Da flöten die Sirenen: Wie erstrebenswert wäre es, diesem Ideal zu entsprechen! Wäre das Leben dann nicht endlich schön, unbeschwert und erfolgreich? Doch auch wenn mit viel Energie und Engagement Perfektionierungs- und Optimierungsanstrengungen – auch durch Coaching – unternommen werden, bleibt es im Inneren nicht selten leer, Ängste kehren nach einer gewissen Zeit zurück, verstärken sich gar oder verlagern den Schauplatz.

Da scheint sich etwas zu wehren im Inneren gegen die vollständige Vereinnahmung durch ein „so muss ich sein“. Und das erzeugt Spannung. Und genau dort lohnt es sich, genauer hinzusehen. Denn es könnte sein, dass es Seiten in uns gibt, die sich durch die immer energischeren Anpassungs- und Optimierungsleistungen nur noch weiter in die Ecke gedrängt fühlen. Die sich nicht gehört und einmal mehr übergangen fühlen bei unseren schnell gefundenen und vehement verfolgten Zielen. Es könnten unsere verletzlichen, ängstlichen, beschämten Seiten sein. Noch mehr zurückgedrängt, noch weniger verstanden und gehört, lassen wir sie weiter alleine, zementieren so ihre Ablehnung.

Was, wenn genau diese empfindsamen Seiten die eigentliche Musik der Veränderung spielen? Wenn wir einmal den verführerischen vordergründigen Gesang der Sirenen ausblenden und unseren ungehörten Seiten Gehör schenken?

Kurs nehmen auf echte Bedürfnisse

Zugegeben, das Lauschen mag zunächst ungewohnt sein. Angst, Einsamkeit, Ohnmacht, Scham, Sinnlosigkeit – wir sind es gewohnt, mit unseren  Bewältigungs- und Veränderungsstrategien darauf abzuzielen, solche unangenehmen Gefühle zum Verstummen zu bringen.

Doch diese Gefühle haben eine wegweisende Funktion. Sie sind wichtige Orientierungssignale, keine Störungen.

Sie informieren uns darüber, wie wir äußere Reize und Situationen seelisch verarbeiten. In einem unangenehmen Gefühl begegnen sich Gegenwart und Vergangenheit, nämlich dann, wenn die Reaktion auf ein aktuelles Ereignis stärker ist, als es die äußeren Umstände erwarten ließen. Die empfundene Bedrohung etwa, wenn man vor dem Vorstand präsentieren soll, hat wenig damit zu tun, dass dieser einem wirklich gefährlich werden könnte. Vielmehr lösen innere unbewusste Annahmen, die sich durch viel frühere Erfahrungen geprägt haben, Ängste aus und bestimmen das Handeln in der Gegenwart. Vielleicht wurde man früher beschämt, als man sich zeigen wollte?

Unangenehme Gefühle sind daher letztlich ein verlässliches Navigationsinstrument. Sie können uns treffsicher zu unterdrückten Bedürfnissen führen, die wir gelernt haben zu vermeiden, weil sie in der Vergangenheit mit Schmerz verknüpft waren.

Wer in einem früheren Lebensabschnitt z. B. mit einem Bedürfnis nach Nähe, Ausdruck oder Schutz keine Resonanz erfahren hat – oder gar Ablehnung, Beschämung oder Gewalt –, hat gelernt, dieses Bedürfnis zu verdrängen. Der Schmerz der Nichterfüllung wog stärker als das Bedürfnis.

Heute ist das ursprüngliche Bedürfnis noch da – aber es ist verkleidet, verschlossen, mit dem unangenehmen Gefühl des damaligen Schmerzes gekoppelt. Wir umgehen es, indem wir Ersatzbedürfnisse verfolgen. Und das sind dann die Sirenen, die singen: Anerkennung, Leistung, Kontrolle, Selbstoptimierung!

Gefährliches Bündnis für falsche Ziele

Wenn ein Coach sich also vorschnell mit vordergründigen Zielen verbündet, besteht die Gefahr, dass die eigentliche psychische Dynamik unerkannt bleibt. Der Veränderungswunsch wird nicht hinterfragt, sondern mit Techniken und Tools blind verfolgt. Unangenehmes wird verdrängt oder schön geredet – das kann kurzfristig Erleichterung bringen, aber langfristig zu innerer Entfremdung und zur Verschärfung der seelischen Not führen.

Warum? Weil einmal mehr ein Pakt geschlossen wird gegen die eigenen verletzlichen Seiten, die lange keine Stimme hatten und jetzt wieder übergangen werden. Das, was ich in mir ablehne, lehnt der Coach gleich mit ab. Ich mache also wieder dieselbe Erfahrung wie zuvor. So, wie ich bin, ist es nicht in Ordnung, ich muss anders werden.

Das ist Coaching, das dem Gesang der Sirenen erliegt. Abseits eines echten Kurses auf sich selbst fährt es früher oder später gegen die Klippen.

Am sicheren Mast – Coaching als Erkundungsraum

Im Zentrum meiner Arbeit als Coach stehen daher nicht schnelle Lösungen oder blinde Zielerreichungsstrategien. Coaching verstehe ich als einen gemeinsamen Erkundungsraum – in dem wir Ihre Veränderungsanliegen und Ziele mit Achtsamkeit und Tiefe erforschen.

Welche Vorstellungen treiben an – und welche Seiten in Ihnen bleiben bisher ungehört? Welche inneren Spannungen machen sich bemerkbar, wenn ein Teil nach Optimierung strebt, während ein anderer sich zurückzieht, zweifelt oder sich wehrt?

Gemeinsam betrachten wir die Funktion und Dynamik Ihrer bisherigen Strategien: Wovor haben sie Sie geschützt? Welche Bedürfnisse liegen ihnen zugrunde? Und was geschieht, wenn man beginnt, damit in Verbindung zu treten, statt sie zu übergehen?

Coaching kann also helfen, den verführerischen Gesang falscher Ziele zu erkennen – und stattdessen dem echten eigenen Lied zu lauschen. So entsteht innere Freiheit, die sich nicht an äußeren Idealen, sondern an stimmiger Selbstverbindung orientiert und Kurs nimmt auf stimmige Selbstverbindung.

Coaching ist dann wie ein sturmsicherer Mast, von dem aus wir alles, was sich zeigt, gelassen und geschützt betrachten können – fest verankert in einem partnerschaftlichem Vertrauensverhältnis, in dem ich Ihnen mit Empathie, Interesse und Achtsamkeit begegne und gerade in emotional schwierigen Situationen Ihr verlässliches Gegenüber bleibe.

Mehr über mich finden Sie hier.

Weiterführend zur hier beschriebenen Thematik:
Hör mal, wer da spricht. Im Gespräch mit der inneren Familie.
Klaus Eidenschink: Das Verunsicherungsbuch. Warum das Gute auch schlecht ist. Für Coaches und andere Mutige. Heidelberg 2025.

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